Corona verändert gerade unser aller Leben. Fahrzeit-Autor Gunnar Fehlau hadert wie jeder mit der Krise und stellt dabei fest, dass die vielen Bikepacking-Touren der letzten Jahre ihn viel lehrten, was in Coronazeiten nützlich ist. Hier kommen seine Top Ten.
Text/Fotos: Gunnar Fehlau
0) Prolog
Seitdem ich 2008 das erste Mal mit dem MTB raus in den Wald geradelt bin, eine Nacht dort verbrachte und anderntags wieder ins Büro gerollt bin, haben Bikepacking und Selfsupport-Racing einen großen Stellenwert in meinem Leben eingenommen. Genauer gesagt: Sie haben quasi mein komplettes Leben unterwandert und – in weiten Teilen – zum Besseren verändert.
Dass mich dieses flowige Fahren mit leichtem Gepäck in mitunter schwerem Gelände stark verändert hat, war wohl ein schleichender Prozess, dessen Resultat sich mir erst jetzt, während Corona, offenbart. Es geht um Resilienz, also die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen, welche nun gewissermaßen vom Rad gestiegen ist und meinen Alltag prägen.

1) Wo stehe ich?
Diese Frage stellt sich auch jeder Bikepacker und Racer: Auf welchem Level bin ich, auf welchem Level ist das Rennen und welche Ziele leiten sich daraus ab? Schon 2004 stand im Regelwerk des „Great Divide Race“: „Don’t bring The Race down to your level – elevate yourself to the level of The Race!“
Diese Idee, nicht durch Tricksereien der Hürde ihre Höhe zu nehmen, sondern die Herausforderung bedingungslos in all ihren Facetten anzuerkennen und dann anzugehen, gilt für mich grundsätzlich, ganz gleich ob Candy B. Graveller oder Corona: Ich passe mich an die Herausforderung an und nicht die Herausforderung an mich, basta!
2) Einzelzeitfahren
Gerade beim Selfsupport-Race, also dem Radrennen im Bikepacking-Stil, geht es darum, möglichst schnell und maximal autark und ohne fremde Hilfe ins Ziel zu kommen. Zusammen mit dem Verbot von Gruppen- und Windschattenfahren kommt man ganz automatisch in eine gewisse soziale Isolierung.
Bei meiner ersten Grenzsteintrophy 2009 bin ich zwei Drittel der 1.300 Kilometer vollständig alleine gefahren und habe auf dem Kolonnenweg der ehemaligen Grenze keinen (!) Menschen getroffen. Einzig beim Einkaufen und ‑kehren hatte ich soziale Kontakte. Nicht einmal ein Smartphone hatte ich dabei. Wie angebunden an die Welt und wie verbunden mit Freunden, Verwandten und Kollegen bin ich dagegen doch gerade!

3) Keine negativen Gedanken!
Zermürbend an der Corona-Krise ist neben der konkreten Angst um die eigene Gesundheit und die anderer vor allem die Unsicherheit: Wann ist die Pandemie vorbei, was wird aus meinem Job und wie funktional kommen Staat und Wirtschaft aus der Krise heraus? Fragen, die einem Schlaf und Zuversicht rauben können.
Es muss irgendwann 1986 oder 1987 gewesen sein, als mein Bruder und ich uns fragten, ob man mit dem Fahrrad an einem Tag von Zuhause (Bergisch Gladbach) nach Emsdetten (bei Münster) fahren könnte, unvorstellbare 180 Kilometer. Die Antwort konnte nur die Straße geben. Frühmorgens los, erreichten wir das Einfamilienhaus der Freunde unserer Eltern in Emsdetten spät am Abend.
Unterwegs zweifelten wir keine Sekunde daran, dass wir es schaffen würden. Wir fuhren einfach immer weiter. Bis zur nächsten Kreuzung, bis zur nächsten Stadt, bis zur nächsten Region, bis zum Ziel. Einmal aufgestiegen, galt unterwegs: Keine negativen Gedanken!

4) Der ganze Kuchen
Logisch, ich will immer gleich den ganzen Kuchen haben, aber ich greife immer erst nach dem nächsten Stückchen. Und genauso gelingen große Rennen und es ist egal, ob das Trondheim-Oslo oder der Tuscany-Trail ist. Wer sich im Start überlegt, dass es noch über 500 Kilometer bis zum Ziel sind, der öffnet dem Zweifeln Tür und Tor.
Also nur ein Stückchen vornehmen: „Bis zur ersten Verpflegungsstation rolle ich mich ein und schaue mal, wie die Tagesform so sein könnte“, oder auch am Morgen „zwei Stunden bis Florenz, dann wird gefrühstückt“, dass nach dem Frühstück an diesem Tage noch 200 Kilometer durch die hügelige Toskana folgen sollen, das geht mit der Verheißung eines leckeren Frühstücks glatt.
Ich bin Herr meiner Gedanken und deshalb dürfen diese auch ausgetrickst werden. So unvorstellbar und unplanbar Art und Länge der Beschränkungen durch Corona sind, so wichtig werden kleine und nahe Ziele: Ostern täglich Biken, bis Mai diese drei Bücher lesen und schon bin ich am Ziel!

5) Rollende Prepper
Den Reiz der Selfsupport-Rennen macht für mich das Wechselspiel zwischen Vorbereitung und Realität aus. Egal, wie gut ich für eine Bikepacking-Fahrt vorbereitet bin, irgendwann kommt der Moment, an dem Plan und Realität getrennte Wege gehen. Der Plan verabschiedet sich in den Mülleimer und die Realität besetzt 100 Prozent meiner Präsenz. Jetzt erst beginnt die eigentlich Fahrt. Nämlich die Fahrt raus aus der Komfortzone, rein ins Ungewisse.
Die Kunst besteht darin, diesem Moment nicht mit Schockstarre zu begegnen, verbissen am alten Plan festzuhalten und negativen Gedanken Raum zu geben, sondern darin, vielmehr lustvoll in diese neue Situation einzutauchen. „Be prepared for the unprepared“, beschrieb Ultraracer-Legende Jay Petervary dieses Paradox einmal: Einerseits einen ausgefeilten Plan mit penibler Vorbereitung zu haben, andererseits dessen situative Adaption fast sehnlichst zu erwarten.

Der „Be-prepared“-Teil meines Jahresplans ist mit der Coronakrise dahin, jetzt kommt der Unprepared-Teil.
6) Dein Rad ist das beste Rad der Welt, immer!
Die Punkte 3 und 5 zusammengenommen sorgen für bedingungslose Akzeptanz. der Situation – und der Verantwortung, die es in der Situation zu übernehmen gilt. Es ist meine eigene Entscheidung, abends auf den Overnighter gestartet zu sein. Meine eigene Entscheidung, das Fatbike genommen zu haben. Meine eigene Entscheidung, den Sommerschlafsack gewählt zu haben. Nicht das Wetter entscheidet sondern meine Ausrüstungswahl.
Also ich! Ich habe in dem Moment das beste Rad der Welt dabei. Schlicht aus dem Grund, dass ich kein anderes dabei habe. Ich habe in dem Moment den besten Schlafsack der Welt dabei. Schlicht aus dem Grund, dass ich keinen anderen dabei habe. Meine eigene Entscheidung, keinen Jahresvorrat Hefe, Mehl und Klopapier angelegt zu haben. Und doch ist mein Vorratsregal im Keller gerade das beste der Welt. Schlicht aus dem Grund, dass ich kein anderes habe.

7) Scheuern
Wie ernst es jemand mit Selfsupport-Rennen meint, lässt sich in der Regel mit einem Blick auf sein oder ihr bepacktes Rad erkennen. Und damit ist nicht gemeint, wie viel Ausrüstung in den Taschen und am Rad verstaut ist. Nein, das Wie macht hier die Musik. Gerade bei den Races, die zwei oder mehr Wochen in Anspruch nehmen, gilt: Was durchscheuern kann, wird durchscheuern!
Was ausleiern kann, wird ausleiern! Was sich losrütteln kann, wird sich losrütteln! Wie die Fahrerin oder der Fahrer diesem Gesetz begegnet, zeigt, wie gut er/sie wirklich vorbereitet ist. Ein Tropfen Schraubenkleber, ein paar Zentimeter Gaffer-Tape und redundante Befestigung fürs GPS-Geräte, … und hat man das einmal für seine Schrauben, Taschen und Spannriemen am Rad verstanden, dann überträgt man das auf seine Versicherungen, Absprachen im Job oder die Desinfektion von Einkaufswagen.

8) Echtzeit-Pflege
Wenn es zwickt, behebe es sofort! Wenn dir warm ist, öffne einen Reißverschluss jetzt! Wenn du durstig bist, trinke umgehend! Die größte Rötung im Schritt hat einmal klein begonnen. Und deshalb sollte man sich auf Tour sofort um die Dinge, die eskalieren können, kümmern. „Gefahr erkannt, Gefahr gebannt!“, sagt der Volksmund und er hat Recht!
Gleiches gilt natürlich auch fürs Rad und die andere Ausrüstung: Kleine ad hoc umgesetzte Serviceleistungen sind wirkungsvoller und ressourcenschonender als verschleppte Reparaturen oder Verletzungen. Genauso geht es durch die Krise: Die kleinen Dinge muss man sofort angehen, damit aus ihnen keine großen Probleme erwachsen.

9) Der nächste Herzschlag
Prosaisch könnte man sagen: Der nächste Herzschlag könnte stets der letzte sein. Ja, auch richtig, aber wenig wegweisend oder gar Mut machend! Die Zeit bis zum nächsten Herzschlag ist die kleinste Pause, die mein Körper machen kann. Sie sollte nicht zu kurz und nicht zu lang sein.
Ganz gleich, welchen Anspruch ich an mich und das Rennen habe, der nächste Meter und seine „Herausforderung“ bestimmen mein Tempo, denn ich passe den Antritt an Topografie, Wind und meine Fähigkeiten an. Schneller zu sein als mein eigener Anspruch, das ist möglich, schneller als meine Fähigkeiten hingegen kaum. Und so interagieren Strecke und ich auf jedem Meter und mit jedem Herzschlag.
So schnell wie möglich, so langsam wie nötig. Auch ein gutes Krisentempo!

10) Streckenkenntnis
Wer immer auf den gleichen Strecken fährt oder einen Teamleiter hat, der einem via Knopf im Ohr im richtigen Moment die relevanten Details der Strecke übermittelt, der braucht sich nicht vorbereiten. Wer die Tour Divide oder das TransAm Bike Race oder Transcimbrica fährt, der tut gut daran, sich mit der Strecke auseinanderzusetzen. Google liefert Bilder, Komoot Höhenprofile, Strava Referenzzeiten und Veteranen Erlebnisberichte.
Dennoch: Jeder erlebt die Strecke anders und die Erfahrungen anderer sind nicht die eigenen. So bleibt nichts übrig, als loszufahren und zuschauen, was kommt, mit den Kräften haushalten und – am wichtigsten – die Fahrt, also die auch Krise, zu genießen, alle Sinne zu öffnen und das Gute einzusaugen.

Epilog: Nein, dieser Text soll keinesfalls das echte Leiden der Erkrankten oder die unvorstellbare Belastung der Pflegekräfte in Abrede stelle oder relativieren. Vielmehr wird er dem Umstand gerecht, dass viele von uns sich irgendwie in der Situation zurechtfinden müssen, ohne akut in Gefahr zu sein, was dennoch viele von uns vor echten Herausforderungen stellt.