Als wir den ersten Teil von Joshs Abenteuer „Transcimbrica“ verfassten, konnte keiner ahnen, dass Corona auch in Deutschland so durchschlägt: Zwischenzeitlich hat Dänemark seine Grenze geschlossen und der organisierte Eventsport ist europaweit faktisch zum Erliegen kommen. In Spanien und Italien ist Radfahrsport gegenwärtig generell verboten. Das ist gut und richtig, weil wichtig! Da gibt es keinen Interpretationsspielraum.

Soweit die Ratio. Aber wir Radfahrer sind auch Gefühlsmenschen. Und wenn eigene große Fahrten erst einmal in weite Ferne rücken, so erfreuen wir uns umso mehr an den Bildern und Erlebnissen von Josh erster großen Fahrt in diesem Jahr: Transcimbrica 2020, 1.369 Kilometer von Hamburg einmal hinaus zur Nordspitze Dänemarks und wieder zurück.
Am Freitagabend (06.03.2020) treffen sich rund 50 Fahrer an der Kneipe „Timeless“. Kurz vom Start werden kleine Fläschchen mit hochprozentigem Inhalt und Transcimbrica-Etikette verteilt. Diese gilt es beim Foto an jedem Checkpoint ins Bild zu halten. So ist sichergestellt, dass die „Dokumentationsfotos“ nicht gefakt sind. Wir starten bei frischen 2°C um 0:01 Uhr.


Trailmagic in der Mitte der Nacht
Kleine Grüppchen bilden sich und zerfallen wieder in loser Folge, wie das halt bei Brevets und Bikepacking-Fahrten ist. Asphalt, Betonplatten und Schotterpisten wechseln sich ab. Es ist dunkel und kalt. Die Stunden und Kilometer ziehen dahin. Plötzlich steht ein Auto im Nichts. Drumherum einige Menschen. Erst denke ich an einen Unfall oder eine Panne. Dann wird klar: Da stehen andere Radler und die Stimmung ist ausgelassen, es wird gelacht.
Ich rolle näher heran und schaue in den Kofferraum. Der ist voller Leckereien, Tee und Kaffee. „Trailmagic“ werden solche Aktionen in der Szene genannt.
Der Stopp kommt zum Aufwärmen gerade recht, denn inzwischen sind es ‑2°C. Kurz danach, um 4:11 Uhr, erreiche ich bei Kilometer 96 den Checkpoint 1: Die Grünentaler Hochbrücke führt über den Ostsee-Kanal.

Hamstern vor der Grenze
Kurz vor der dänischen Grenze bei Kilometer 216 stocke ich meine Vorräte auf. Mein Plan: Anschließend bis Skagen, dem Wendepunkt der Strecke, nichts mehr einkaufen. Das spart Zeit und motiviert zudem in Bewegung zu bleiben. Das ist ja die hohe Kunst der Langstreckenfahrten: Unnötige Pausen vermeiden und jede Pause effizient zu gestalten. „It’s all about moving time“, sagen die Racer. Bei Kilometer 248 gönne ich mir einen zehnminütigen Powernap.

Mit Bert aus Holland, einem alten Haudegen der Szene, habe ich einen guten Mitfahrer gefunden. Wir sausen bis Esberg: Pasta und eine Cola – weiter geht‘s! Es klart auf und wir haben sogar Rückenwind auf der langen Gerade des Ringkøbing Fjords. Bei Kilometer 390, gegen 21:00 Uhr, legen wir uns für fünf Stunden in einer Hütte, von denen es in Dänemark reichlich gibt, schlafen.


Treibholz
Der Tag beginnt früh, dunkel und kalt, aber mit Rückenwind. Er pustet uns weiter nordwärts. Es ist gerade einmal 7:48 Uhr als wir Oddesundbroen, den zweiten Checkpoint bei Kilometer 482 erreichen.
Wir fahren häufig auf den dänischen Fahrradhighways, die perfekt ausgebaut sind: ein Traum! Anders der Wind: Der wird sehr böig und erschwert das Vorankommen, was sich bis zum Ziel nicht mehr ändern sollte.

Es gehört zu den Faszinationen solcher Fahrten, dass Zeit, Raum und Distanzen jede Relation verlieren. Wir sind in Thisted, haben heute bereits 160 Kilometer auf der Uhr und essen gerade einmal Mittag. Für viele Menschen wäre diese Distanz bereits mehr als ein Tagewerk. Wir kalkulieren hingegen unsere mögliche Ankunftszeit in Skagen. Starker Regen setzt ein? Wir lassen uns nicht bremsen! Die Kilometer ratterten nur so dahin.
Der Weg führt über breite Betonplatten durch ein landschaftlich schönes Gebiet, das der Lüneburger Heide sehr ähnlich ist. Aber: Zum ersten Mal wird die Fahrt zur Qual. Wind, Regen und Kälte setzen mir zu. Aber es geht weiter. Und um 17:00 Uhr ist es soweit: Wir erreichen bei Kilometer 661 Rubjerg Knude Fyr, das obligatorische Foto mit dem Leuchtturm ist „Pflicht“ für jeden TC-Fahrer.

Ich schlendere einen Moment am Strand, überall liegt Treibgut herum und ich entschließe mich, meiner Freundin ein großes Stück Holz mitzubringen. Ruckzuck ist es auf der Hecktasche verzurrt.

Pizza zum Mitnehmen und doch nicht
Kaum 80 Kilometer weiter sind wir in Skagen. Es ist 21:30 Uhr am Sonntag, keine Chance, ein geöffnetes Restaurant zu finden. Einzig ein Pizza-Take-Away hat noch offen. Wir bestellen und tragen unsere Pizza in den Vorraum, essen bibbernd. Der Betreiber hat Mitleid mit uns und Sekunden später sitzen wir in der Wärme.
Zurück auf dem Rad ist es nur eine kurze Fahrt bis zum nördlichsten Punkt Dänemarks. Hier treffen Ost- und Nordsee zusammen. Der Mond beleuchtet die Wellen und das Rauschen des Meers ist unglaublich. Kaum 45 Stunden nach dem Start in Hamburg erreichten wir Skagen. Unfassbar!
Per App zur Hütte
Mittlerweile ist es fast Mitternacht und ein Shelter muss her. Ich schaue kurz in der dänischen Shelter-App nach und wir finden eine gute Hütte, ca. 40 Kilometer von Skagen und nahe der Strecke. Wir quartieren uns für vier Stunden ein und dann geht es auch schon wieder los. Das Wetter soll heute besser werden und das wollen wir nutzen. In Aalborg stocken wir unsere Vorräte auf und machen das nächste Checkpoint-Foto.


Wäre hätte es gedacht, die Strecke wird welliger und die Hügel kosten Körner, immerhin habe ich schon über 800 Kilometer in den Beinen. Der Gravel-Anteil der Strecke steigt merklich an und ich bin froh über meine bergtaugliche Übersetzung und die Reifen, die auf den verschiedenen Untergründen gut rollen.
Um 1:30 Uhr endet dieser Tag. 3 Stunden und zehn Minuten später beginnt ein neuer. Dieser begrüßt uns mit peitschendem Gegenwind und fieser Kälte. Ich bin erschöpft und meine Frustrationsgrenze ist erreicht. Was mich jetzt motiviert, ist ein Blick auf das Fahrerfeld: Vor uns sind mit Björn und Gerald nur zwei weitere Fahrer.
Stück für Stück
Ich versuche, mir den Weg zurück nach Hamburg in greifbare Teilstücke zu zerlegen. Nächstes Ziel ist die Dänisch-Deutsche Grenze. Dort werde ich nach Herzenslust meine Vorräte auffüllen. Dann sind es kaum mehr 184 Kilometer … lächerlich angesichts der deutlich über 1.100 km, die ich dann schon in den Beinen habe.
Doch die Realität sieht weniger euphorisch aus: Der Wind bleibt, die Mündigkeit wird immer heftiger, ich bin komplett nass und friere. Der Wind legt nochmals zu und pustet mich von der rechten zur linken Fahrbahn. Gegenlenken ist nur im Unterlenker möglich, zum Glück liegt der Zipp-Lenker so gut in den Händen.
Müdigkeit und Dunkelheit sorgen dafür, dass ich Bert aus den Augen verliere: Ist er vor mir? Ist er hinter mir? Ich weiß es nicht.
Zehn Minuten für die letzten 100 Kilometer
Bei Kilometer 1.269 steht die Kanalfähre Oldenbüttel an: Es ist 22.00 Uhr. Ich treffe Bert wieder und gönne mir eine kurze Pause: Ich ziehe mich in der Kälte um. Zum Glück habe ich einen zweiten Satz langer Klamotten mit. Keine 100 Kilometer mehr zum Ziel! Mit der Wärme kommen die Lebensgeister zurück.
Und auch der Wind steht plötzlich perfekt und schiebt uns Richtung Hamburg. Die Vororte der Elb-Metropole sind schon in Sicht, als wir noch einmal für einen zehn Minuten Powernap im Geldautomatenraum einer Bank stoppen. Die Straße sind menschenleer und wir rollen vergleichsweise unspektakulär am „Timeless“ ein.
Foto mit Fläschchen, ein schwungvolles Highfive mit Bert und wir schauen auf unsere GPS-Geräte: Es ist 3:46 Uhr, wir blieben also unter 100 Stunden Brutto-Fahrzeit. Das fühlt sich so gut an! Und so müde!
Auf dem Weg durch Hamburg zu meiner Unterkunft fallen mir mehrfach die Augen zu, angekommen schlafe ich direkt ein. Was für ein Abenteuer in einer so schönen Gegend.

Drei Tage danach
Drei Tage später treffen wir Josh auf seiner Heimat-Radbahn in Göttingen, die Beine seien noch schwer, der Hintern aber schon recht fein regeneriert und Radfahren mache bereits wieder richtig Spaß meint er, während er auf seinem Rennrad im Oval Runden dreht.
Seine Stimmung wird nicht durch den Rückblick auf Transcimbrica getrübt, sondern mehr durch den Blick auf den „Rennkalender“, gerade prasseln die Absagen wegen Corona reihenweise ein. Was Josh sich dazu einfallen lässt, berichten wir zu einem anderen Zeitpunkt.

Sowas wie ein Fazit
- Transcimbrica beim ersten Versuch gemeistert.
- Das erste Mal eine Fahrt mit mehr als 1.000 km gefahren.
- Das erste Mal 400 km am Stück als Tagesdistanz gefahren.
- Vier Mal in Folge den eigenen Tagesdistanzrekord überboten (265 km).
- Noch nie so ausdauernd bei solch schlechtem Wetter gefahren.
- Die Reifen waren eine super Wahl: Auf allen Untergründen gute Traktion und leichten Lauf gehabt. Keine Platten dank Stan’s Tubeless Milch.
- Der Lenker war perfekt und durch sein Flare sehr gut im (Seiten-)Wind zu greifen.
- Der Antrieb, mit seiner Übersetzungsbandbreite war perfekt für die hügeligen Abschnitte am dritten Tag und schnell genug bei Rückenwind auf langen Graden: Das große Kettenblatt war richtig gewählt und leistete guten Dienst.
- Und die Fotos unterwegs waren nur möglich, weil ich die GoPro griffbereit in der Lezyne-Tasche hatte
Bildergalerie
Alle Fahrzeit-Berichte zur Transcimbrica 2020 findest du hier.